Wie die magnetischen Kräfte der Sonne Gasteilchen bewegen

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Die Sonnenprotuberanz vom 28. Juni 2019, 7:58 Uhr, beobachtet vom Solar Dynamical Observatory (SDO). Zum Größenvergleich ist links unten die Erde als blauer Kreis dargestellt.

Bild: NASA/SDO and the AIA, EVE, and HMI science team; Edit: AIP
13. Oktober 2021 //

Ein Forschungsteam unter Beteiligung des Leibniz-Instituts für Astrophysik Potsdam (AIP) untersuchte eine Sonnenprotuberanz und beobachtete dabei geladene Teilchen, die sich um 70 Prozent schneller bewegten als ungeladene. Die Messungen deuten auf die dynamischen Prozesse in der Protuberanz hin und können beispielsweise zur Überprüfung von Modellrechnungen zur Simulation von Gaswolken bei der Stern- und Planetenentstehung genutzt werden.

Auf der Sonne können sich bogenförmige Materieströme bilden, die als gigantische Wolken über der Sonnenoberfläche schweben. Solche Protuberanzen werden von einem Stützgerüst aus magnetischen Feldlinien gehalten, die in tiefen Sonnenschichten verankert sind. Die dort stets herrschenden Strömungen bewegen das Stützgerüst und damit die Protuberanz. Ein Forschungsteam der Universitäten Göttingen, Paris und Locarno sowie dem AIP hat beobachtet, dass sich die geladenen Ionen in den Sonnenprotuberanzen um bis zu 70 Prozent schneller bewegen als neutrale Atome. Die Ergebnisse der Studie sind in der Fachzeitschrift Astrophysical Journal erschienen.

Die Forscher beobachteten, wie magnetische Kräfte innerhalb von zehn Minuten eine Protuberanz um 25.000 Kilometer – etwa zwei Erddurchmesser – anhoben. Das entspricht mit 42 Kilometern pro Sekunde etwa der vierfachen Schallgeschwindigkeit innerhalb der Protuberanz. Dabei traten Schwingungen mit einer Periode von 22 Sekunden auf, bei denen ionisierte Eisen-Atome bis zu 70 Prozent schneller waren als neutrale Helium-Atome. Nach den Gesetzen der Physik müssen die elektrisch geladenen Eisen-Ionen den Bewegungen des Magnetfeldes folgen, nicht aber die ungeladenen Helium-Atome. Diese werden zwar von den Ionen mitgerissen, jedoch nur zum Teil, da es bei dem vorherrschenden niedrigen Gasdruck nicht genügend Kollisionen zwischen den Teilchen gibt. „Diese kurzen Schwingungen zeigen, wie dynamisch die physikalischen Vorgänge innerhalb der Protuberanz sind“, bemerkt Dr. Horst Balthasar vom AIP.

Solche Bedingungen, bei denen teil-ionisiertes Gas mit wenigen Kollisionen vorkommt, spielen in der Astrophysik eine wichtige Rolle – nicht nur in Sonnenprotuberanzen, sondern unter anderem auch in Gaswolken, aus denen sich Sterne und Planeten bilden, im weit verteilten Gas zwischen den Sternen und im Gas zwischen Galaxien. Die theoretische Astrophysik simuliert solch einen Zustand mit zwei Flüssigkeiten, die nur schwach miteinander wechselwirken. „Diese Rechnungen enthalten Modell-Annahmen, von denen einige mit den neuen Messergebnissen überprüft werden können“, erklärt Dr. Eberhard Wiehr vom Institut für Astrophysik der Universität Göttingen, Erstautor der Studie.

Das Team führte die Beobachtungen am Sonnenteleskop in Locarno durch, mit dem nur zwei Emissionslinien gleichzeitig gemessen werden konnten. Nun planen die Wissenschaftler erweiterte Beobachtungen am französischen Teleskop auf Teneriffa, mit dem mehrere Linien gleichzeitig vermessen werden können. Zudem ermöglicht die vierfache Lichtstärke dieses Teleskops eine so kurze Belichtung der lichtempfindlichen Kameras, dass noch kürzere Schwingungsperioden messbar werden. Das AIP wird ein neues Kamerasystem für den Spektrografen am deutschen Vakuum-Turm-Teleskop (VTT) auf Teneriffa bereitstellen, das ebenfalls in der Lage ist, mehrere Spektrallinien simultan zu erfassen. „Möglicherweise finden wir dann noch höhere Geschwindigkeitsunterschiede zwischen den geladenen Ionen und den neutralen Atomen“, so Eberhard Wiehr.

Weitere Informationen

Originalveröffentlichung

Eberhard Wiehr et al. Velocity difference of ions and neutrals in solar prominences. Astrophysical Journal (2021).

DOI: https://doi.org/10.3847/1538-4357/ac1791

https://arxiv.org/abs/2108.13103

Pressemitteilung Universität Göttingen

https://www.uni-goettingen.de/de/3240.html?id=6432

Das Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) widmet sich astrophysikalischen Fragen, die von der Untersuchung unserer Sonne bis zur Entwicklung des Kosmos reichen. Forschungsschwerpunkte sind dabei kosmische Magnetfelder und extragalaktische Astrophysik sowie die Entwicklung von Forschungstechnologien in den Bereichen Spektroskopie, robotische Teleskope und E-Science. Seinen Forschungsauftrag führt das AIP im Rahmen zahlreicher nationaler, europäischer und internationaler Kooperationen aus. Das Institut ist Nachfolger der 1700 gegründeten Berliner Sternwarte und des 1874 gegründeten Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam, das sich als erstes Institut weltweit ausdrücklich der Astrophysik widmete. Seit 1992 ist das AIP Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.
Letzte Aktualisierung: 14. Oktober 2021